Nicht Ohne: Winter

Das in Kanada im Winter Schnee fällt, ist soweit nichts Neues. Was aber ein richtiger Winter ist, hatte ich mir nie klargemacht. In einer beispiellosen Materialschlacht tritt der Mensch an gegen Kälte, Eis und Schnee. An seiner Seite die Macht des Dieselmotors und Millimeter dicken Stahls.

Snow Mobile Crossing

Herbst – Winter is coming.

Bei den Autowerkstätten und Reifenspezis reihen sich die Autos auf. Fleißige Studentenhände schleppen die Winterreifen aus den Lagern und bringen die Sommerschlappen dorthin zurück. Bei den älteren der parkenden Wagen zeigen sich die Zeichen vieler vergangener Winter: die Flanken wie zerfetzt vom Rost, die Scheinwerfer gelblich stumpf, in der Motorhaube klemmt ein trauriges Kabelende mit Stecker.

Ab Mitte November werden Hecken und Büsche mit Konstruktionen aus Holzlatten und Filz eingewickelt. In den Vorgärten wird emsig aufgebaut: Einfahrten werden überdacht mit stabilen, weißen Zelttunneln, den sogenanntem Tempos (abris temporaire). Manche dieser Tunnel sind breit genug für Erst- und Zweiwagen, andere verzweigen sich in kleinere Tunnel, die über Gehwege und Treppen zur Haustür führen, und erinnern so an die Quarantänezelte von Hollywood-UFO-Landeplätzen. Mannshohe Stangen, gelb gestrichen, werden aufgestellt. Sie säumen Rasenflächen oder markieren Hydranten.

Winter

Schneeschieberbalett

Der erste Schnee fällt, zuerst wenig, dann mehr. Wie fleißige Bienchen schwärmt eine Armada von brummenden Fahrzeugen aller Größen über Stadt und Land. Radlader und Trecker mit großen Schaufeln und Schneefräsen befreien Einfahrten, Pickup-Trucks mit Schneepflügen räumen die kleinen Straßen und streuen grobes Salz aus. Männer der Tat räumen Ihre Einfahrt selbst. Wenige sportliche mit Schaufeln, die anderen mit handgeschobenen Schneefräsen – eine Art Schneefressender und -spuckender Rasenmäher.

Mack

Die engen Straßen der Innenstädte lassen nicht viel Platz für die Schneemengen, parkende Autos machen das Räumen schwierig, daher gibt es ein System von orangenen Warnlampen, die anzeigen, wann man wo parken darf. Sein Auto im Winter an der Straße stehen zu lassen, ist nur sehr bedingt möglich, ständig muss man umparken. Kleine gelbe Kettenfahrzeuge rattern über die Gehwege. Irgendwann ist zu viel Schnee da, es ist Zeit für die Laster. Schweres Gerät verfrachtet die Anhäufungen in die Laster, viele Laster. Die bringen den Schnee aus der Stadt, da hin, wo Platz ist: auf große Halden. Montréal, auf der gleichen geographischen Höhe wie Venedig, gibt jedes Jahr 155 mio $ für Schneeentfernug aus.

Über die Landstraßen und Autobahnen pflügen 10-Tonnen-Gefährte, Schnee und Dreck spritzt in einer Art stehenden Welle von ihren Schaufeln in den Graben. Ihr Salz verwandelt das liegen gebliebene in einen grauen, alles besudelnden Matsch. Die leeren Kanister der frostsicheren Scheibenwaschflüssigkeit stapeln sich an jeder Tankstelle.

233 Kelvin oder wärmer

Im Januar wird es kälter. Der Himmel ist oft klar, so klar wie sonst nie, so blau wie sonst nie. Der Schnee fällt nicht mehr als Flocke, sondern als glänzender, weißer Staub, der im Wind dicht über den Boden tanzt.
Das Geräusch des Schnees unter den Schuhen verändert sich vom gemütlich-bekannten *knurbs*-*knurbs* in ein garstiges *knirtz*-*knirtz*

Parc national de la Gaspésie

Die Luft ist kalt und rein, alles ist erstarrt, das gibt Raum für Bewegung. Bewegen kann man sich viel, draußen in der Natur. Je nach Wohnort liegt der Wintersport mehr oder weniger vor der Haustür. In der Stadt werden die Straßen mühsam freigekratzt, in der Natur formt die Schneedecke eine neue Landschaft, die es nur im Winter gibt, und die erkundet werden will. Schneeschuhe sind die Einstiegsdroge. Der Weg ist immer dort, wo man gearde lang geht, einen Meter über dem Waldboden.

Wer sich nicht bewegen, sondern bewegen lassen will, für den erfand Joseph-Armand Bombardier das Schneemobil. Québec ist die Heimat und das Paradies des Motorschlittens. Ein Netz von weißen Straßen durchzieht die Provinz. In einigen abgelegenen Gebieten ist die Schneemobilstrecke, die über zugefrorene Flüsse und Sumpfgebiete führt, die einzige Landanbindung einer Siedlung.

Eine der abgefahreneren Freizeitbeschäftigungen ist das Eiskanufahren. Einst geboren aus der Not, den brückenlosen Sankt Lorenz auch im Winter überqueren zu müssen, wird das Ganze als lokales Event gefeiert. Stabile, große Kanus werden von fünf Mann Besatzung über den Fluss gepaddelt, gestaakt oder über das Eis gezerrt.

Ice canoeing across the St. Lawrence.

Frühling – Schneeschmelze

Er kommt spät, aber er kommt. Der Frühling kündigt sich an durch steigende Temperaturen in Kombination mit Schneestürmen als letztes Aufbäumen des scheidenden Winters. Spätestens an diesem Punkt hat wirklich niemand mehr Bock auf Schnee. Doch die Sonne kommt heraus, überall schmilzt das Weiß und wird dabei zu grau, braun, später zu schwarz. Der Schnee legt nicht nur hässliche Farben frei, sondern auch hässliche Gerüche. Doch wird die leichte Note von Hundekot, die frühlings in der Luft liegt, von vielen wohlwollend als unverkennbares Zeichen wahrgenommen: Es wird Sommer!

Sommer – Straßenrepariersaison

Der Schnee ist weg, einzig die mittlerweile schwarzen Schneekippen werden noch bis weit in den Sommer hinein auftauen. Nachdem die ersten Regenschauer die Salzkrusten von den Straßen gewaschen haben, wird das Ausmaß des Elends ersichtlich: Keine von ihnen hat den Winter ohne Spuren überstanden. Vom ersten kleinen Riss bis zum Achsen brechenden Schlagloch ist alles zu finden. Zumindest letztere sollten grob geflickt werden, doch die Zeit ist knapp, und es gibt viele Straßen, und bald bauen die Leute  wieder die weißen Zelttunnel in Ihren Vorgärten auf…

2 Gedanken zu „Nicht Ohne: Winter“

  1. Hallo Niklas,
    ein ganz fantastischer Artikel, der sich vor allem durch diverse Feinheiten des Deutschen vom alltäglichen Sprachgebrauch abhebt! Auch die Perspektive Deiner Beobachtungen sind typisch deutsch, was ich als ausgesprochen positiv bemerken möchte !
    Wir müssen den Link auf unserem Stammtischblog posten, alles klar!
    MARC
    (Deutscher Stammtisch Québec)

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