Chinese New Year
Dass die Chinesen ihr Neujahrsfest nicht nach dem Westlichen Kalender Feiern, hatte ich irgendwo schonmal gehört. Dass sie es lautstark mit Feuerwerk zelebrieren, konnte ich mir aus den in Deutschland als Chinaböller bekannten Knallkörpern zusammenreimen. Dass das Feuerwerk in dieser Nacht seinem Namen alle Ehre machen würde, sollte ich noch herrausfinden.
Das so genannte Spring Festival findet im Winter (Januar oder Februar) statt, ist auf den chinesischen Bauern- oder Mondkalender bezogen und leitet ein neues Tierjahr ein. In diesem Jahr das Jahr des Hasen. Aus diesem Grunde grinsen einem bunte Comic-Hasen aus Pappe von jeder dekorierten Wand an. Hierzulande ist es der höchste Feieratag, und weist in vielen Punkten eine verblüffende Ähnlichkeit mit der westlichen Kombination aus Weihnachten und Silvester auf. Ganz China hat frei und fährt zu seinen Eltern, besucht seine Verwandten, trifft Freunde aus der Heimatstadt, feiert mit der Famile den Jahreswechsel und spielt, so mein Kollege, exzessiv Mahjong. Neben dem spielen und natürlich dem Essen im Kreise der Familie wird heutzutage gerne gereist, so es die Kasse erlaubt, oder Feuerwerk verbrannt. Und das nicht zu knapp.
Feuerwerk
Das, was sich am chinesischen Neujahrstag hier abspielt ist sehr schwer in Worte zu fassen. Nicht nur, dass man an jeder Straßenecke hüfthohe Mörserbatterien kaufen kann, die auf dem Niveau von einem professionellen Feuerwerk in Europa sind, sie sind dazu spottbillig und jeder kauft, was er sich leisten kann. Eine Woche lang. Am Neujahrstag um 23:00 herrscht Krieg. Würden nicht Heerscharen von Straßenfegern und Alpapiersammlern die Überreste beseitigen, stünden die Papierfetzen von abgebrannten Ketten mit vielen Tausend Knallern wahrscheinlich kniehoch. Im Gegensatz zu vielen Kollegen, die die Neujahrsferien zum Reisen nutzen, verbrachte ich den Jahreswechsel im kleinen Kreis in Shenyang.
Chronik
8:00 Uhr: Ich werde geweckt von einer Reihe Mark erschütternder Explosionen. Der vorige Abend war etwas länger, daher versuche ich, noch ein wenig weiter zu schlafen. Mit mäßigem Erfolg. Die bösen Geister werden mit dem Krach vertrieben. Dummerweise haben sich die böse Geister des Vorabends in meinem Kopf eingenistet und räumen das Feld nicht kampflos.
11:00 Uhr: Ich bewege mich vom Bett zum Sofa, wo ich die nächsten Stunden verbringen werde. Da wir dumm genug waren, nicht reichlich einzukaufen, und alle Läden und Restaurants geschlossen haben, bestellen wir bei dem 24h-McDonalds-Lieferservice. Unsere Gruppe ist klein, und das Gefühl der Verlorenheit in der Achtmillionenstadt, das wir schon von Weihnachten und Silvester kannten, breitet sich aus. Es ist in etwa so, als säßen wir in unserem Wohnzimmer auf dem Meeresgrund, umgeben von den Flammenkorallen des Feuerwerks, die uns immer wieder zum Fenster eilen lassen. Ab und zu kommt der McDonalds-Mann.
17:00 Uhr: Als die Dunkelheit hereinbricht, nimmt das Feuerwerk zu. Die Gebäudebeleuchtung des 219 Meter hohen Dynasty Wanxin Gebäudes gegenüber gibt dessen goldener Fassade seine majestätische Note. Weil wir noch andere Versorgungsengpässe haben, machen wir uns auf den Weg zum Supermarkt auf unserem etwas runtergekommenen Luxus-Compound. Dort angekommen bekommen wir einen ersten Vorgeschmack, was uns erwartet. Wie wahnsinnige Feuerteufel springen Chinesen zwischen Feuerspuckenden Kisten und brennenden „Teppichen“ herum, entfachen immer neue Spektakel. Es regnet Papierfetzen und Sand.
ca. 23:30 Uhr: Als vor dem Hotel gegenüber ein voll beladener Lastwagen seine großen Kisten aus bunt bedrucktem Papier auf zwei Spuren der achtspurigen Straße verteilt, sind wir wieder in unserem Wohnzimmer, ca. 70 m über dem Meeresgrund. Der nun folgende Angriff ist von beängstigender Schönheit. Der Knall, mit dem sich die Feuerblumen nur wenige Meter vor unseren Gesichtern entfalten, geht durch Mark und Bein, die bunt leuchtenden Kugeln hinterlassen graue Brandspuren, als sie an mein Schlafzimmerfenster treffen.
ca. 1:00 Uhr: Das Feuerwerk lässt nach, und aus einer Art Silvester-Reflex verlassen wir unsere Wohnung, um das Nachtleben der Neujahrsfeier zu erkunden. An der Straße warten wir auf ein Taxi. Das einzige was wir sehen, ist eine zunehmende Anzahl an Feuerwehrfahrzeugen. Wir sehen nach. Ein gelblicher Schimmer in der von Pulvernebel dunstigen Luft verrät es: die uns abgewandte Seite des Turm B des Wanxin Dynasty Buildings steht über eine Höhe von gut 20 Stockwerken in Flammen. Beeindruckt von dem zerstörerischen Hunger des Feuers, das nach und nach auf den mittleren der 3 Türme übergeht, stehen wir ca 100 Meter entfernt, bis uns ein Hagel aus brennenden Blechstücken der Fassadenverkleidung zum Rückzug zwingt.
ca. 3:00 Uhr: Auf Umwegen gehen wir zurück in unsere Apartments, weil die Gegend weitläufig abgesperrt ist. Unterwegs treffe ich einen Bekannten, der im Pyjama mit Daunenjacke und fassungsloser Mine den brennenden Turm B anstarrt. Abgesehen von den Kleidern am Leib hat ihn das Schicksal gerade von all seinem materiellen Ballast befreit, er wohnte im 17. Stock. Er erzählt mir, dass weder Rauchmelder noch Sprinkleranlage in dem nur wenige Jahre alten Gebäude funktioniert hätten. Damit haben die Flammen leichtes Spiel, denn der längste Löschausleger der Feuerwehr reicht nur auf 50 Meter hinauf – bei über 200 Meter Gebäudehöhe.
ca. 4:00 Uhr: Die folgende Stunde stehen wiederholt sechs Polizisten in unserem Appartment, die uns zum verlassen des Gebäudes überreden wollen. Da uns der Einsturz unseres Gebäudes weniger wahrscheinlich erscheint, als bei tiefen Minusgraden auf der Straße zu erfrieren, kommen wir, abermals auf Umwegen, wieder in unsere Wohnung.
ca. 6:00 Uhr: Als abzusehen ist, dass der Brand unter Kontrolle ist, lege ich mich schlafen.
ca. 7:00 Uhr: Lauter Krach weckt mich. Panisch falle ich aus dem Bett und renne zum Fenster, den einbrechenden Turm schon vor Augen. Der Turm steht noch, friedlich vor sich hin qualmend. Jemand hat die erste Bombenkette des Tages gezündet. Das Feuerwerk geht weiter.
Links
Guter Artikel über das Feuer im Wall Street Journal
Hm, frohes neues Jahr…
Dass ein brennender Wolkenkratzer in Chicago, Liverpool oder Sydney es in die hiesigen Nachrichten geschafft hätte, brauch ich ja nicht erwähnen.
Das scheint ja schon ne große Sache gewesen zu sein.
Aber wenn unser Overlord nicht mehr zigarrenrauchend und „yeehaa“-schreiend, sondern klein, gelb und wuselig ist, kriegt man hier vielleicht auch Nachrichten von östlich der Wolga mit.
Hoffe, der McDo war nicht in der untersten Etage!
Gruß,
V
Du meinst, man könnte das Sprichwort „…oder in China fällt ein SACK REIS um.“ auch auf WOLKENKRATZER erweitern? Mal abwarten wer noch wie lange der Overlord ist, und über wen dann berichtet wird.
Der McDonalds war übrigens nicht in der untersten Etage, sonst wären die Burger sicher „noch warm“ geliefert worden. Wir mussten runter zum Tor laufen, und die Burger durchs Gitter fummeln, weil alles abgesperrt war.